Sie sprechen über Maschinen, Mythen und die Magie eines perfekt extrahierten Espressos. Wer tiefer eintauchen will: Das vollständige Interview findest du am Ende dieses Beitrags als PDF zum Download.
Zwei Profis, zwei Perspektiven – geballtes Wissen aus Wissenschaft und Praxis
Im Gespräch treffen zwei Welten aufeinander: die wissenschaftliche Neugier von Prof. Thomas Michaels, Physiker an der ETH Zürich, und die handwerkliche Präzision von Shem Leupin, Barista-Meister und Röstverantwortlicher bei Stoll Kaffee.
Leupin bringt die Erfahrung aus der Tasse ein, Michaels die Theorie aus dem Labor. Was sie verbindet: die Faszination für Kaffee als komplexes Naturprodukt und die Überzeugung, dass guter Kaffee kein Zufall ist, sondern das Resultat vieler durchdachter Schritte.
Mythen adé: Kaffee braucht Wissen, nicht Glauben
Viele Menschen trinken täglich Kaffee – doch viele wissen wenig über ihn. So glauben viele immer noch, dass Espresso deutlich mehr Koffein enthält als Filterkaffee. Ein Irrtum, wie Michaels erklärt: Es kommt aufs Brühverhältnis an, nicht auf die Getränkebezeichnung. Espresso ist lediglich konzentrierter, nicht stärker.
Ein weiterer verbreiteter Irrglaube: der sogenannte „Ristretto-Trick“, bei dem der Bezug des Espressos früher gestoppt wird. Das Ziel ist oft ein stärkerer Geschmack – das Ergebnis ist aber meist das Gegenteil: ein unausgewogenes Getränk mit deutlich weniger Aromen.
Ein ‹abgekürzter› Espresso ergibt keinen stärkere Kaffee, sondern einen mit halb so vielen Aromen. – Thomas Michaels
Die beiden Experten entlarven solche Irrtümer mit fundiertem Wissen – und helfen so, den Blick aufs Wesentliche zu richten: auf Qualität und Handwerk.
Zubereitung: Die unterschätzte Kunst
Viele Fehler passieren bei der Zubereitung – nicht bei der Bohne. Shem Leupin erlebt das täglich in der Gastronomie. Maschinen sind oft nicht richtig eingestellt, die Mühlen nicht kalibriert, das Wasser nicht gefiltert – und die Maschinen nicht sauber. Dabei sind das keine Details, sondern entscheidende Qualitätsfaktoren.
Espressomaschinen müssen regelmässig gereinigt werden – in Cafés täglich, zu Hause mindestens wöchentlich. – Shem Leupin
Michaels ergänzt: Auch zu Hause kann Kaffee auf sehr hohem Niveau zubereitet werden – vorausgesetzt, man beschäftigt sich ein wenig mit der Physik dahinter. Die Wahl des richtigen Mahlgrads, die Extraktionszeit, das Brühverhältnis – all das beeinflusst Geschmack, Körper und Säureprofil der Tasse.
Ich empfehle, auch daheim die Zubereitung von Kaffee wissenschaftlich anzugehen. – Thomas Michaels
Das bedeutet nicht, dass man ein Labor braucht – aber eine gute Waage, eine verlässliche Mühle und ein Gefühl für Prozesse. Wer ein paar Regeln beachtet, macht zu Hause oft besseren Kaffee als viele Restaurants.
Specialty Coffee & Sensorik: Die Tasse erzählt eine Geschichte
Specialty Coffee ist kein Hype – sondern die Konsequenz aus Qualität in jeder Phase: vom Anbau über die Verarbeitung bis zur Zubereitung. Shem Leupin erklärt, dass Specialty-Kaffees nach einem Punktesystem bewertet werden, bei dem Aspekte wie Reinheit, Komplexität und Säure im Fokus stehen. Diese Kaffees bringen die Herkunft, das Terroir, in die Tasse.
Ein guter Kaffee bringt die Einzigartigkeit der Bohne in die Tasse. – Shem Leupin
Dabei geht es nicht um Elitarismus, sondern um Geschmackserlebnisse. Helle Röstungen mit fruchtiger Säure sind nicht für jeden Einstieg geeignet – aber mit etwas Neugier erschliessen sich ganz neue Welten. Filterkaffee ist dabei oft ein guter Einstieg, da er Aromen breiter zur Geltung bringt und weniger intensiv wirkt als Espresso.
Kaffeekultur weltweit – von Chiasso bis Äthiopien
Espresso an der italienischen Tankstelle – für viele der Inbegriff eines perfekten Kaffees. Aber ist das wirklich so? Leupin sagt klar: Auch in Italien gibt es gute und schlechte Espressi. Oft entsteht der Mythos durch Urlaubserinnerungen, weniger durch objektive Qualität.
Spannend wird es, wenn Michaels über die Unterschiede zwischen Zürich und dem Tessin spricht: Im Tessin ist der Kaffee traditioneller, oft mit klassischem, steifem Milchschaum. In Zürich hingegen sieht man zunehmend moderne Kaffeeangebote – ein Einfluss internationaler Communities.
Auch die Herkunftsländer sind Thema: In Äthiopien, der Wiege des Kaffees, bleibt oft nur minderwertige Ware im Land – die besten Bohnen werden exportiert. Das zeigt: Kaffee ist globales Kulturgut und zugleich ein sensibles Handelsgut.
Gesundheitlich unbedenklich – sogar förderlich
In einem separaten Infoteil klärt Chemieprofessor Chahan Yeretzian von der ZHAW über vier zentrale Gesundheitsmythen auf.
Fazit: Kaffee ist weder gefährlich noch süchtig machend – im Gegenteil. Er enthält Antioxidantien wie Chlorogensäuren, die sogar gesundheitsfördernd wirken können. Bis zu fünf Tassen pro Tag gelten als unbedenklich – bei manchen Menschen sogar als hilfreich.
Fazit: Qualität braucht Aufmerksamkeit – und sauberes Wasser
Die zentrale Botschaft: Guter Kaffee ist kein Hexenwerk, aber er braucht Aufmerksamkeit. Vom gefilterten Wasser über den Mahlgrad bis zur Maschinenpflege – jedes Detail zählt. Und wer sich mit Geschmack und Herkunft beschäftigt, entdeckt eine neue Welt. Kaffee ist nicht einfach nur ein Getränk. Er ist ein Erlebnis, das täglich neu entdeckt werden kann.